Politik & Verwaltung - 30.01.2023

Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

„Die Verbrechen der Nationalsozialisten aufzuarbeiten, ihrer Opfer zu gedenken und die Erinnerung auch in nachfolgenden Generationen wach zu halten, ist und bleibt eine immerwährende Aufgabe und moralische Verpflichtung“, sagte Erster Bürgermeister Christian Specht am Freitag, 27. Januar, dem seit 1996 bundesweiten und seit 2005 internationalen Holocaust-Gedenktag. Auch die Stadt Mannheim gedenkt seit vielen Jahren an diesem Datum der Opfer des NS-Regimes. Dieses Mal fand die öffentliche Veranstaltung im Anna-Reiss-Saal im Museum Weltkulturen der Reiss-Engelhorn-Museen statt, wo Specht neben zahlreichen Vertretern aus Verwaltung, Politik und Kirchen auch eine achtköpfige Delegation aus der Normandie begrüßen konnte.

Die Veranstaltung war dem Andenken an alle Opfer des NS-Terrors gewidmet, rückte jedoch in diesem Jahr die etwa 300.000 Menschen in den Mittelpunkt, die die Nazis ab 1939 im Rahmen des „Euthanasie“-Programms umbrachten. Ein Wort ursprünglich aus dem Griechischen, das in seiner ursprünglichen Bedeutung für einen guten, würdigen Tod nach dem Willen der Betroffenen steht. „Die Nazis gebrauchten und missbrauchten es, um ‚Rassenhygiene‘ zu betreiben und die ‚arische Herrenrasse‘ hochzuhalten“, brachte es Prof. Dr. Heidrun Deborah Kämper auf den Punkt, die in ihrer Funktion als Mitglied des Kuratoriums der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Rhein-Neckar e. V. die Gedenkveranstaltung moderierte. Menschen, deren Leben nach NS-Ideologie nicht in den „gesunden Volkskörper“ passte und mehr Geld kostete als es einbrachte, wurden vergast, misshandelt und für fragwürdige medizinische Forschung missbraucht.

Allein das Mannheimer Erbgesundheitsgericht ordnete laut Specht weit mehr als 1.500 Zwangssterilisationen von chronisch und psychisch Kranken sowie körperlich und geistig behinderten Menschen an, um vermeintlich damit verbundene Krankheiten auszurotten. Die Nazis sprachen von „lebensunwertem Leben“, „nutzlosen Essern“ und „Ballastexistenzen“. In diese Gruppe seien auch diejenigen eingeordnet worden, deren Lebensstil nicht in die Norm der NS-Ideologie passte und somit als „asozial“ abgestempelt wurden. In sechs Tötungsanstalten wurden von Januar 1940 bis August 1941 im Rahmen der „Aktion T4“ (benannt nach der Adresse der zuständigen Dienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4) mehr als 70.000 Menschen systematisch ermordet.

Kritik oder gar Protest aus der Bevölkerung seien ausgeblieben. „Es waren Einzelfälle, vor allem in kirchlichen Kreisen, wie der Münsteraner Bischof Clemens August von Galen, die sich auflehnten und die sogenannten Krankenmorde anprangerten“, so Specht. Die öffentliche Predigt des Geistlichen am 3. August 1941 habe maßgeblich dazu beigetragen, dass die Aktion T4 offiziell eingestellt wurde. Doch das Morden ging weiter. Bis 1945 wurden Zehntausende weitere Menschen durch Überdosierung mit Medikamenten, Nahrungsentzug und Vernachlässigung in Kliniken, Heimen und Fürsorgeeinrichtungen umgebracht.

„In Mannheim wurden mehr als 1.000 Menschen Opfer der NS-„Euthanasie“, sagte Specht: „Allein diese hohe Zahl schockiert uns.“ Denn wie die Studie von Dr. Lea Oberländer belegt, war Mannheim kein unmittelbarer Tatort, da es selbst keine psychiatrische Klinik hatte. Oberländer war als Hauptrednerin eingeladen und erklärte, dass Mannheim zu den wenigen Städten gehöre, die sich mit der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels befasse. Im Rahmen ihrer Dissertation konnte sie die Schicksale von 1040 Mannheimerinnen und Mannheimern namentlich nachweisen. Die Mannheimer Opfer starben an mindestens dreißig verschiedenen Orten. 519 der 1040 Identifizierten wurden in der Tötungsanstalt Grafeneck vergast. Viele weitere starben während des Krieges und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren an Unterversorgung, Hunger und Vernachlässigung in den Anstalten. Die Ermordung jüdischer Patienten hatte nach den Worten von Oberländer innerhalb der „Euthanasie“-Aktion eine sehr hohe Priorität. Die Opfer waren jeden Alters und Frauen gefährdeter als Männer.

Zur Rolle der Angehörigen hat sie anhand von Dokumenten herausgefunden, dass diese sich sehr wohl kümmerten, von den Anstalten jedoch keine oder falsche Informationen erhielten, abgewimmelt und nicht in Kenntnis gesetzt wurden, wann und wohin das Familienmitglied verlegt wurde.

„Das Individuum hatte in der NS-Diktatur keine Bedeutung“, fasste es Specht zusammen. Das Töten unter den Deckmantel der „Euthanasie“ zu stellen sei zugleich aus ideologischem Kalkül heraus geschehen. Denn damit einher sei die Deformierung moralischen Empfindens gegangen, die viele Menschen zu der Überzeugung gelangen ließ, die Tötung kranker und behinderter Menschen wäre ein Akt des Mitleids und deshalb auch ethisch legitim. Doch tatsächlich handelte es sich um systematischen Massenmord, für den die Mehrzahl der Täter und Täterinnen strafrechtlich nicht belangt wurde, weil die historische Forschung erst Anfang der 1980er begann, sich mit dem Thema zu befassen. „Und in die deutsche Gedenk- und Erinnerungskultur haben die „Euthanasie“-Opfer ebenfalls erst in dieser Zeit und nur zögerlich Eingang gefunden“, stellte Specht fest.

In Mannheim sei man vor allem den Mitgliedern des „Arbeitskreis Justiz und Geschichte des Nationalsozialismus“ zu Dank verpflichtet, die das „mobile Mahnmal“ für die Opfer der Zwangssterilisationen auf den Weg gebracht haben, welches seit zehn Jahren an das NS-Verbrechen erinnert. An sie sowie an all die Millionen Menschen, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden, Gewalt erfahren haben und getötet wurden, wolle Mannheim am Holocaust-Gedenktag erinnern, was jedoch mehr bedeute, als das Andenken zu pflegen. „An die Opfer der NS-‚Euthanasie‘ zu erinnern heißt auch, der menschenverachtenden Unterscheidung zwischen ‚lebenswertem‘ und ‚lebensunwertem‘ Dasein die Überzeugung entgegen zu setzen, dass jedes menschliche Leben es wert ist, geachtet und geschützt zu werden, und dass kein Mensch – und erst recht kein Staat – das Recht hat, den Wert des einzelnen Lebens zu beurteilen“, mahnte Specht und zitierte Bundespräsident Gustav Heinemann mit dem Satz: „Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder verfährt.“

Schüler und Schülerinnen von Max-Hachenburg-Schule, Marie-Curie- und Wilhelm-Wundt-Realschule sowie der Integrierten Gesamtschule Mannheim-Herzogenried hatten sich ebenfalls mit dem Thema auseinandergesetzt und gingen der Frage nach, wie es dazu kommen konnte, und befassten sich mit der Rolle der Täter und Mitwisser. Sie hatten sich auf die Suche nach Gedenkorten gemacht und sich gefragt, wie es ihnen mit ihrer eigenen Biografie unter den Nazis ergangen wäre. Musikalisch wurde die Gedenkfeier von Fritjof von Gagern, Cello, und Nora von Marschall, Harfe, umrahmt.

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